Inhalt des Dokuments
Theoretischer Hintergrund
Die Verwendung elektronischer Multifunktionsdisplays (MFDs), die zum Zweck der effizienten Navigation und Schiffssicherheit GPS-Kartenplotter, Log, Anemometer, Lot u.v.m. auf einem Display am Steuerstand vereinen, werden nicht nur im Hochseeregattabereich, sondern auch auf Fahrtenyachten im Binnenmeer und küstennahen Gewässer immer beliebter.
Aus Sicht der Human-Factors-Forschung stellt sich hier die Frage: Profitiert der Segler bzw. die Crew von der Multifunktion, oder ist er von der Informationsmenge und der Vielzahl der Funktionen überfordert? Wie kann die Gebrauchstauglichkeit (Usability) eines MFD ggf. optimiert werden?
Aus Sicht der Psychologie und Sportwissenschaft ist die Frage von Interesse, ob die regelmäßige Nutzung des MFDs kognitive Fähigkeiten des Seglers steigert oder beeinträchtigt. Für Action-Videospiele am Computer wurde eine Verbesserung visueller Aufmerksamkeitsleistungen bereits wiederholt gezeigt (z.B. Green & Bavelier, 2003). Bei Navigationsgeräten im Straßenverkehr fand man hingegen, dass deren Verwendung, insbesondere die Weg-Voraus-Ausrichtung der Kartenanzeige, Raumvorstellung und Orientierungsleistungen des Fahrers beeinträchtigt (z.B. Burnett & Lee, 2005).
Fragestellungen
1. Nutzungsgewohnheiten und Gebrauchstauglichkeit (Usability):
- Welche Hard- und Softwarelösungen werden von Fahrtenseglern im deutschen und benachbarten Seeraum derzeit verwendet?
- Welche der in Multifunktionsgeräten angebotenen Funktionen werden genutzt, und gibt es hier Unterschiede nach Nutzergruppen (z.B. Bootstyp, Fahrtgebiet, Alter und Größe der Crew)?
- Welche Anzeigen und Bedienelemente sind unter den Bedingungen des Segelns auf See kognitiv-ergonomisch günstig, welche weniger?
2. Kognitive und seglerische Auswirkungen der Nutzung von MFDs:
- Raumkognition: Beeinflusst die (ausschließliche) Verwendung von Kartenplottern anstelle von Papierseekarten die räumliche Orientierungsfähigkeit auf See, und/oder die mentale Repräsentation von Richtung und Geschwindigkeit von Schiff, Wind und Strom und deren Beziehung zueinander? Ist dies abhängig von Nutzungsgewohnheiten (z.B. Kartenausrichtung)?
- Aufmerksamkeit: Verbessert sich die Kapazität und Effizienz visuell-räumlicher Aufmerksamkeitsleistungen durch Verwendung des MFDs am Steuerstand im Vergleich zur traditionellen Teilung von Aufgabe und Arbeitsplatz zwischen Steuermann und Navigator?
- Belastung, Multitasking: Werden insbesondere kleine Crews durch das MFD effizient von aufwändiger Navigationsarbeit unter Deck entlastet und dadurch leistungsfähiger und sicherer in der Bootsbeherrschung, oder überfordert das Multitasking den Steuermann?
Methoden
Frage 1: Nutzungsgewohnheiten und Gebrauchstauglichkeit (Usability)
Im Rahmen studentischer Exkursionen sollen 2-3 Feldstudien auf einer typischen Fahrtenyacht [1] auf der Ostsee mit Testgeräten unserer Kooperationspartner Raymarine und Garmin stattfinden:
a) Entwicklung und Erprobung eines Fragebogens zu Nutzungsgewohnheiten von MFDs: Befragt werden sollen deutschsprachiger Fahrtensegler während ihrer Fahrt, Stichprobenumfang möglichst 100-200 Boote. Die Befragung soll im Sommer 2015 in verschiedenen Ostseehäfen durchgeführt werden.
b) Anwendung qualitativer Usability-Methoden (z.B. lautes Denken, Registrieren von Usability Issues) bei standardisierten Aufgaben an den Testgeräten durch die studentischen Crews als Versuchspersonen (ca. 6-8). Es sollen sowohl Anfänger als auch erfahrenere Segler teilnehmen.
c) Entwicklung eines Usability-Fragebogens auf der Grundlage der Ergebnisse der Nutzerbefragung im Feld (siehe a) und der qualitativen Usability-Untersuchung (siehe. b); Befragung einer größeren Stichprobe (> 200) durch Verbreitung des Fragebogens über Fachorgane, z.B. Yacht oder Deutscher Segler-Verband.
Frage 2: Kognitive und seglerische Auswirkungen von MFDs
a) Exploratives empirisches Vorgehen: Introspektive und gegenseitige Beobachtung im Rahmen der Exkursionen zur Frage 1; Generierung untersuchbarer Hypothesen auf der Basis der einschlägigen kognitionspsychologisch-sportwissenschaftlichen Grundlagenliteratur einerseits und der Literatur zu Auswirkungen neuer Medien im Spiele-, Automobil- und Luftfahrtbereich andererseits.
b) Laborexperimente am Bildschirm und Simulator zur Entwicklung geeigneter Testaufgaben; Hypothesenprüfung unter kontrollierten Bedingungen.
c) Validierung der Laborergebnisse in einer weiteren Feldstudie, bei der Segler während und nach ihrer Fahrt den unter b) entwickelten kognitiven und sportlichen Testaufgaben unterzogen werden (Stichprobengröße pro getesteter Fähigkeit ca. 12-16).
Zeitplan
Erste Projektphase, Frühjahr-Herbst 2015: Frage 1, Methoden a) und b), und Frage 2, Methode a).
Zweite Projektphase, ab Winter/Frühjahr 2015/16: Frage 1, Methode c), und Frage 2, Methode b)
Dritte Projektphase, ab Sommer 2016: Frage 2, Methoden b) und c)
Projektleiter und -mitarbeiter
Als Projektleiterin verfüge ich über Studienabschlüsse in Mathematik, Sportwissenschaft und Psychologie und arbeite wissenschaftlich seit mehr als 15 Jahren in der Kognitionspsychologie mit Schwerpunkt visuell-räumliche Aufmerksamkeit. Seit 2010 leite ich als Professorin das Fachgebiet Methodenlehre und Maritime Psychologie, wobei der Schwerpunkt meiner Lehrtätigkeit neben der Statistik in der Testtheorie und Fragebogenkonstruktion liegt.
Daneben bin ich langjährige Hobbyseglerin mit derzeit einer eigenen 470er Jolle und einer 32-Fuß-Fahrtenyacht, welche ich zuletzt einhand auf der Ostsee geskipppert habe. Ich besitze die Sportbootführerscheine Binnen, See, SKS und Funk (UBI, SRC).
Unsere Studenten im viersemestrigen Masterstudiengang Human Factors an der TU Berlin verfügen über einen ersten Studienabschluss in Psychologie oder Ingenieurwissenschaften. Das Studium umfasst sowohl grundlagenwissenschaftliche als auch anwendungsorientierte Kenntnisse und Methoden mit dem Ziel, Mensch-Technik-Interaktionen („Mensch-Maschine-Schnittstellen“) zu analysieren und zu optimieren. Ein Schwerpunkt liegt auf der Vermittlung von Usability-Methoden. An den Ostsee-Exkursionen der ersten Projektphase können Studenten im Rahmen einer Seminar- oder Masterarbeit teilnehmen. Die weiteren Projektphasen sollten bevorzugt im Rahmen von Master- oder Promotionsarbeiten, ggf. im Unternehmen Raymarine Deutschland oder Garmin Deutschland, bearbeitet werden.